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Ein Immunsystem für den Liberalismus. Anthony de Jasays sezierende politische Philosophie, Anthony de Jasay interviewed by Gerhard Schwarz, in: Neue Zürcher Zeitung, December 8, 2003

Ein Immunsystem für den Liberalismus. Anthony de Jasays sezierende politische Philosophie, Anthony de Jasay interviewed by Gerhard Schwarz, in: Neue Zürcher Zeitung, December 8, 2003

Anthony de Jasays sezierende politische Philosophie

G. S. Die Volkswirtschaftslehre hat den Bezug zu ihren Wurzeln, nämlich zur politischen Ökonomie, als die sie einst begründet worden ist, zunehmend verloren, und sie hat lich immer mehr in einzelne Schulen ausdifferenziert. Anthony de Jasay, der letzte Woche für einen Vortrag vor dem Liberalen lnstitut in Zürich weilte, bildet da eine Ausnahme. Er ist – von der Ökonomie herkommend – einer der bedeutendsten liberalen Sozialphilosophen unserer Zeit, die über den Gesamtzusammenhang von Wirtschaft, Staat und Individuum nachdenken, und er ist stolz darauf, zwischen allen Stühlen (bzw. Schulen) zu sitzen.
Vieles von de Jasays Individualismus ist in einem typisch europäischen Lebenslauf des 20. Jahrhunderts angelegt. 1925 in Ungarn als Sohn von Landedelleuten geboren, studiert er zunächst in Budapest Ökonomie. 1948 flieht er über die grüne Grenze nach Österreich. Dort schlägt er sich zwei Jahre durch und wandert dann nach Australien aus. In Perth schliesst er sein Studium, das er mit Gelegenheitsarbeiten finanziert, ab. Ein Stipendium bñngt ihn nach Oxford, wo er einige Jahre am Nuffield College Ökonomie lehrt und diverse Aufsätze für Fachpublikationen verfasst. 1962 sattelt er aufs Finanzgeschäft um, zunächst als Angestellter, dann als Selbständiger. Dafür übersiedelt er nach Pañs, wo er seine Frau kennen lernt. De Jasay spekuliert so erfolgreich, dass er es sich leisten kann, 1979 die Arbeit an den Nagel zu hängen und sich – in der Normandie, wo er seit 1981 lebt – voll der Wissenschaft zu widmen. Dass das beträchtliche Vermögen, das er erwirtschaften konnte, inzwischen wieder fast vollständig weggeschmolzen ist, kommentiert de Jasay ohne Bitterkeit. Es gehört für ihn zu den vielen «Zufällen», die sein ganzes Leben geprägt haben.
Nach dem Weggang von Oxford beschäftigt sich de Jasay neben dem Beruf vor allem mit Geschichte, während die Ökonomie eher brachliegt. 1985 erscheint sein erstes Buch, “The State”, das verschiedenste Wissensbereiche in sich vereint. Es folgen “Social Contract, Free Ride” (1989), “Market Socialism: A Scrutiny” (1990), “Choice, Contract, Consense” (1991), “Against Politics” (1997) und “Justice and its Surroundings” (2002). Spieltheoretische Überlegungen spielen dabei jeweils eine grosse Rolle. Deutsche, spanische, französische, chinesische und türkische Übersetzungen zeugen von einer betrachtlichen Resonanz. Vermutlich wäre sie jedoch grösser, wäre de Jasay nicht “Privatgelehrter”. Das macht ihn “zünftigen” Akademikern etwas suspekt. Dazu kommt, dass ein starkes Nachlassen der Sehkraft in den letzten Jahren das Arbeiten erschwert hat.
In seinem Werk geht es de Jasay darum, den Liberalismus neu zu fassen und den “losen” Liberalismus, der alles und jedes bedeuten kann, durch einen “strikten” Liberalismus zu ersetzen. Das, was man heute Liberalismus nenne, sei eine Doktrin, deren Immunsystem versage. De Jasays Liberalismus basiert auf drei Wahlaxiomen (das wichtigste lautet: “Nur Einzelpersonen können eine Wahl treffen”) und drei Voraussetzungen des Zusammenlebens (“Versprechen sind zu halten”, “Wer zuerst kommt, mahlt zuerst” und “Alles Eigentum ist privat”). Das gesellschaftliche Modell, das sich daraus ableitet, liegt nahe bei der Anarchie. Den Vorwurf des Fundamentalismus empfindet de Jasay eher als Kompliment, sofern damit gemeint sei, dass er die Dinge konsequent und konsistent zu Ende denke.
Realitatsfremd ist der abstrakt argumentierende, distinguierte Herr dennoch nicht. Die praktische Bedeutung seines Werkes sieht er darin, dass es eine permanente Herausforderung für die Legitimität des Staates bedeute. Trotz semen anarchischen Neigungen sieht er sich im Übrigen nicht als “Libertärer”. Diese Spielart eines radikalen Liberalismus, die auf Locke (den de Jasay im Vergleich zum “Giganten” Hume für “very poor” hält) Mises und Rothbard zurückgeht, sei sektiererisch und betreibe einen Personenkult. Der ist de Jasay zutiefst zuwider. Er selbst tritt nicht nur bescheiden auf, er gehört auch zur raren Spezies von Wissenschaftern, die sich in ihren Werken fast nie selbst zitieren.