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Anthony de Jasay: Wozu noch Marx? Bentham und Mill genügen. Schleichende Ausbreitung des Sozialismus in neuen Formen, in: Neue Zürcher Zeitung, Dezember 21./22., 1991

Schleichende Ausbreitung des Sozialismus in neuen Formen

Nach dem Bankrott des Kommunismus in Osteuropa haben sich zahlreiche Sozialisten vom historischen Marxismus losgesagt, um ihre Ideen stärker mit Marktelementen zu verknüpfen. Anthony de Jasay, liberaler Ökonom und Gesellschaftsphilosoph, geht im folgenden Beitrag den Spuren sozialistischer Gedanken in den verschiedenen Modellen des “Marktsozialismus” oder der “sozialen Markwirtschaft” nach. Jasay, in Ungarn geboren, war früher Wirtschaftswissenschafter an der Universität Oxford und lebt heute als Privatgelehrler in Frankreich. In einem seiner neusten Büicher umreisst er die Rolle des Staates in einer liberalen Gesellschafts-ordnung.

Hätte der historische Marxismus ein Herz besessen, dane wäre dessen Schrittmacher das “Eigentum an den Produktionsmitteln” gewesen. Kollektiver Besitz der “Produktionsmittel” – in der Praxis der Eigentumsanspruch des Staates – galt als moralisch überlegen, da er Ausbeutung und Ungerechtigkeit auszuräumen versprach. Überdies hielt man ihn für effizienter als den Kapitalismus, weil er eine rationell gepiante Zuteilung der Ressourcen zur Befriedigung “echter Bedürfnisse” forderte, statt das Gewinnstreben anzuheizen. Marxismus-Anhänger liessen sich nicht beirren, wenn man ihnen entgegenhielt, dass kollektiver Besitz per definitionem nichts anderes als ein Monopol sei und die Ausbeutung erst recht begünstige. Kein Gehör fand auch der Einwand, das Profitdenken sei zwar kein optimaler, aber duch der beste verfügbare Gradmesser von “Bedurfnissen”, denn bei allen anderen Methoden müsse irgendwer die Bedürfnisse definieren und entscheiden, wieweit und nach welchen Prioritäten sie zu befriedigen seien.

Stalinismus und Eurokommunismus

Erst unter den K.-o.-Schlägen der Erfahrung verlor der kollektive Besitz jede Rechtfertigung und stoppte den Herzschlag des Marxismus. Wollte der Sozialismus politisch überleben, musste er nun seine Anhängerschaft vergessen machen, das er im Grunde den Kommunismus anpeile, und sich vor der öffentlichen Meinung von allem distanzieren, was am Marxismus als überlebt und anstössig empfunden wurde.

Eines dieser Lossagungsmanöver war die Kampagne, welche die Systeme des “real existierenden” Sozialismus in der Sowjetunion und ihren Satelliten als “stalinistisch” brandmarkte. Dadurch konnten die Sozialisten die Schuld am zerstörerischen und entwürdigenden Gebaren des Systems den Perversionen eines verruchten Diktators und seiner Komplizen zuschieben.und behaupten, dies habe mit dem Wesen des Sozialismus nichts zu tun: In den Händen wohlwollender Leute wäre alles nicht so ruinös und grausam, sondern “sozialistisch” herausgekommen. Mit dem Vorschieben des Stalinismus haben sich die sozialistischen Theorien gegen alle Einwände immunisiert, da sämtliche unliebsamen Fakten des Sozialismus Stalin oder dem “Personenkult” angelastet werden konnten. Der Sozialismus hingegen verblieb als keusche Zukunftshoffnung, von der kaum Enttäuschungen zu befürchten waren, weil sie noch nie eine Probe aufs Exempel zu bestehen hatte. Ähnliche Alibis schob der “Eurokommunismus” eines Togliatti, Carillo oder Dubcek vor. Sie wälzten die Schuld am Debakel auf historische und geographische Umstände ab: Durch schieres Pech sei der Sozialismus unter russischer Führung in die Wege geleitet worden, was ihm einen asiatischen, despotischen und rückständigen Stempel aufgedrückt habe. In zivilisierten Gesellschaften hätte er sich hingegen demokratisch und “menschlich” entwickelt. Wer wollte je das Gegenteil beweisen?

Marktsozialismus . . .

Eine deutlichere Abkehr vom fundamentalistischen Marxismus wurde unter dem magischen Siegel “Markt” vollzogen. Heute wind behauptet, Sozialismus und Markt passten ebenso gut, wenn nicht sogar besser zuemander als Kapitalismus und Markt. Zwei Wege der Paarung wurden vorgeschlagen, wovon einer “Marktsozialismus” genannt wurde. Er postulierte zwar den kollektiven Besitz der “Produktionsmittel”, suferlegte dabei aber den staatlichen Unternehmen die Pflicht, sich wie private Firmen zu verhalten. Dadurch sollten für Produktion, Preise und Investitionen dieselben Ergebnisse nachvollzogen werden, wie sie in einem Wettbewerb zwischen unabhängigen Käufern und Verkäufern zustande kämen. Man erhoffte sich davon alle Vorteile des Kapitalismus, ohne dessen “antisoziales” Wesen und dessen “Krisen” in Kauf nehmen zu müssen.

Bisher hat noch niemand versucht, den Marktsozialismus in der Praxis zu erproben. Als vage Annäherung daran kann das jugoslawische Modell der Selbstverwaltungsbetriebe gelten, dessen Erfolglosigkeit mit der rechtlichen Struktur der Betriebe entschuldigt wurde. Ebenfalls in der Nähe des Marktsozialismus lagen die “marktörientierten” Reformen, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren in Ungarn und in Polen eingeführt wurden und wie sie Gorbatschew verheissen, aber nie realisiert hat. Die Ergebnisse dieser schüchternen Reformen waren, wie wir heute wissen, alles andere als überzeugend.

. . . und soziale Marktwirtschaft

Die zweite Art, den Sozialismus und den Markt zu vermählen, lässt eine kühnere Strategie durchscheinen. Sie stiehlt dem Kapitalismus gewissermassen die Kleider, indem sie dem Profitstreben unter privatem Besitz freien Lauf lässt, gleichzeitig aber den Gewinn zur Erreichung edlerer Ziele – wie Solidarität, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit – einsetzen will. Dieses “soziale Marktwirtschaft” genannte System überlässt Produktions- und Investitionsentscheide der Privatwirt-schaft und beauftragt den Staat lediglich mit der Überwachung des Wettbewerbs und der Marktordnung. Zunächst wird dadurch garantiert, dass im freien Markt das Sozialprodukt auf effiziente Weise erwirtschaftet wird. Ist es einmal produziert, soll dann aber anschliessend eine demokratische Politik für dessen Verteilung sorgen und dabei den sogenannt sozialen Geboten Rechnung tragen. Die soziale Marktwirtschaft verspricht mithin praktisch alles, was orthodoxe Sozialisten so augenfällig einzuhalten versagten. Genau dieses Versprechen ist die Grundlage sozialdemokratischer Politik in aller Welt. Die Glaubwürdigkeit des Systems beruhte auf der in den Nachkriegsjahren erbrachten Leistung in den skandinavischen Landem, in Österreich und – nach Ludwig Erhards “Wirtschaftswunden” – in Deutschland.

Ökonomie nur für die Produktion?

Der Attraktivität der sozialen Marktwirtschaft als Denkmodell zu widerstehen fällt schwer, und jeder Politiker, der dagegen anrennt, riskiert eine Wahlschlappe. Genauso wie waschechter Sozialismus gegen rationale Kritik stets immun war, da er etwas versprach, das viele Menschen sehnlich wünschten, ist es fast sicher, dass keine Art von analytischer Kritik den Glauben zu erschüttern vermag, dessen Keim John Stuart Mill einst gepflanzt hatte. Seine Idee postuliert nämlich, dass das Sozialprodukt nach den Regeln des einen Systems produziert und nach den Grundsätzen eines andern Regimes verteilt werden könne.

Lassen wir also Marz beiseite und wenden wir uns Jeremy Bentham und John Stuart Mill zu, die uns weitgehend in die gleiche Richtung weisen. Bentham lehrt, dass man die Wohlfahrt der Gesellschaft insgesamt heben kann und auch soll, indem man die Nutzenzunahme, die aus einer Umverteilungsmassnahme für eine Gruppe von Menschen resultiert, gegen die Nutzeneinbusse aufrechnet, die eine andere Gruppe dadurch zu tragen hat. Dies ist das Prinzip, auf dem sozialpolitische Feinmechanik und Wohlfahrtsstaat beruhen. Mill dagegen vertritt die These, dass die Produktion ökonomischen Gesetzmässigkeiten unterliege, die Verteilung jedoch von der Gesellschaft nach eigenem Ermessen und auf Grund moralischer Vorstellungen vorzunehmen sei. (Päpstliche Enrykliken von “Rerum Novarum” bis “Centesimus Annus” tragen ähnliche Züge.) Ein solches Credo ist von hypnotischer Kraft, überzieht es doch die Vorstellung, dass man den Pelz waschen könne, ohne dar Fell nass zu machen, mit einem quasiwissenschaftlichen Glanz. Wer wäre nicht auf für eine Kombination von Wirtschaftswachstum mit Klassenfrieden, von Konsu-mentensouveränität mit sozialer Sicherheit, von Effizienz mit Gleichberechtigung oder gar für die Paarung eines gemässigten “Mittelwegs” mit kühnen Reformen?

Die Sozialisten unserer Tage verwerfen die existierende Ordnung, “das System” also nicht mehr. Und kaum jemand kann eine Wahlermehrheit davon abhalten, eine mehr oder weniger “soziale” Version der “Sozialen Marktwirtschaft” gutzuheissen. Sogar die Mitte-Rechts-Regierungen Helmut Kohls und John Majors sowie eine derart unverhüllt rechts-nationalistische wie die des ungarischen Demokratischen Forums bekennen sich zu einem solchen System, wenn es auch nur um der Wiederwahl willen geschehen mag. Allerdings sind zwei der konservativsten gegenwärtigen Finanzminister Europas – Carlos Solchaga und Pierre Bérégovoy – Sozialisten, von denen der eine Staatsunternehmen privatisiert und der andere dies gerne tun möchte. Ihre Politiken sind beide so seriös, wie es die Alltagsverhältnisse in der Politik zulassen.

Schwindende Reserven

Was aber ist denn am Marktsozialismus auszusetzen, wenn er im grossen und ganzen funktioniert und die Wahlerschaft einigermassen bei der Stange hält? Es sollte doch gewiss gleichgültig sein, dass er den Sozialisten gestattet, sich vom Marxismus reinzuwaschen, auf Bentham zurückzugreifen und politisch zu überleben. Hauptsache müsste doch bleiben, dass das Modell des Marktsozialismus sie zu verantwortungsvollem Regieren anhält, indem sie sich gemässigte, von den absurdesten Lehrsätzen sozialistischer Orthodoxie geläuterte Programme zu eigen machen.

Der Haken dieser Argumentation ist, dass sie jeglicher Theorie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zuwiderläuft. Die ökonomische Lehre besagt nämlich, dass der Marktsozialismus deshalb nicht funktionieren kann, weil er versucht, den Faktoreinsatz unter ein ökonomisches und die Einkommensverteilung unter ein politisches Regime zu stellen, dass er die zwei Teile also zwei völlig unterschiedlichen und sich widersprechenden Gesetzmässigkeiten zuordnen will. Wenn die Einkommensverteilung mittels Besteuerungs- und Sozialversicherungs-system “sozialen” gestaltet wird, wirkt sich das auf den Einsatz der Produktionsfak-toren aus: Deren Verwendung in der Produktion entfernt sich dadurch ständig weiter vom Muster, das die “Gesetze der Ökonomie” ursprünglich einmal vorgezeichnet haben. Schliesslich werden die verzerrten Anreize für den Faktoreinsatz die Produktion lähmen.

Letztlich wird der Marktsozialismus – da er verteilungspolitischen und ökono-mischen Anforderungen nicht gleichzeitig gerecht werden kann – seine Versprechen nicht halten können. Als Prinzip liegt dar auf der Hand, doch geht es lange, bis dies auch empirisch erhartet ist. Genauso wie es Jahrzehnte gedauert hat, bis es sich zeigte, dass die Planwirtschaft nach sowjetischem Muster nicht lebensfähig ist, werden die Widersprüche des Marktsozialismus erst spät zutage treten. Auf kurze Sicht funktioniert der Marktsozialismus nämlich relativ reibungslos, denn er nährt sich vom Fett, das sich sein Vorgänger, der andere, “adjektivlose” Markt, zugelegt hat. Diese Reserve ist materieller und moralischer Natur: materiell in Form der vorhandenen Infrastruktur und des geäufneten Kapitals; moralisch im Bezug auf die Arbeitsethik, den Geist der Eigenverantwortung und die persönliche Initiative. Von den beiden in der kapitalistischen Vergangenheit angelegten “Fettvorräten” ist der moralische Aspekt ohne Zweifel der wichtigere.

Politik der hohen Kosten und tiefen Löhne

Wenn Märkte um soziale Ziele ergänzt werden, wird ihre darwinistische Schärfe gemildert durch Mitgefühl sowie durch ein “breiteres” öffentliches Interesse, wie es Regierungen, die auf Stimmenfang sind, gerne geltend machen. Die Folgen sind voraussehbar: Lahme Enten werden geschützt, kränkelnde Industrien aufgepäppelt, und dem Luftzug der internationalen Konkurrenz wind es verwehrt, die untüchtigsten der einheimischen Firmen wegzublasen und die noch überlebenden Unternehmen zur unablässigen Kostenkontrolle und Produktverbesserung zu zwingen. “lndustriepolitische Massnahmen” leiten die Investitionen dorthin, wo es gilt, Arbeitslosigkeit zu lindern, wo Politiker um ihre Sitze bangen und wo Korruption die Räder geschmiert hat. Schrittweise verschlechtert sich die strukturelle Lage der Industrie, die den Ansprüchen der Nachfrage und des technischen Fortschritts immer weniger zu genügen vermag. Die Gestehungskosten steigen, und die Fähigkeit, Arbeitsplatze zu schaffen und hohe Löhne zu zahlen, schwindet dahin. Während sich die Umwelt fortentwickelt, bleibt die verteilungspolitisch beeinflusste Ressourcenzuteilung starr, und schliesslich öffnet sich ein Teufelskreis: Je ausgeprägter die Misswirtschaft zutage tritt, desto lauter ertönt der Ruf nach “sozialen” Massnahmen, um die Unbill zu lindern; je umfassender aber solche Massnahmen werden, desto stärker leidet wiederum der Produktionssektor.

Gleichzeitig führen die Mechanismen der “sozialpolitisch” ausgerichteten Kranken- und Arbeitslosenversicherung dazu, dass die Anspruüche ständig ansch-wellen. Verständlicherweise wird jemand, der auf Arbeitslosengeld zurückgreifen kann, nicht irgendeinen Job zu irgendwelchem Entgelt akzeptieren. Der Nettoeffekt eines Sicherheitsnetzes gegen einen Stellenverlust sind ein starres Lohngefüge, eine geringere Mobilität der Arbeitskräfte und eine höhere Arbeitslosigkeit. In allen “sozialen Marktwirtschaften” steigen die Kosten der Gesundheitsversicherung, der Kranken- und Unfallgelder und die Quote der Arbeitsversäumnisse ständig; sie haben in einigen Ländern ein alarmierendes Ausmass angenommen. Alles in allem läuft dies auf eine Wrtschaft der hohen Kosten hinaus, in der die Reallöhne niedriger sind, als sie sein könnten wenn der Markt nicht “sozialisiert” worden wäre.

Es ist durchaus möglich, dass der Marktsozialismus einigen Gruppen lieber ist als ein “Markt ohne Adjektive”, doch ist schwer auszumachen, wer dies genau ist. Denn jede Gruppe, die von irgendeiner Massnahme profitiert, muss gleichzeitig mithelfen, die Kosten der Begünstigungen jeder andern Gruppe zu tragen. Einige dieser Kosten sind klar auszumachen, so beispielsweise Steuern und Sozialver-sicherungsprämien. Andere Kosten bleiben indessen verborgen, ohne je als Abzüge auf der Lohnabrechnung zu erscheinen. Mehrwertsteuer, Inflation, Absentismus und reduzierte Produktivität von Arbeitskollegen, die schwindende Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, die Kosten der Regulierung sowie Protektionismus tragen alle dazu bei, den Lebensstandard unter das langfristige Potential zu drücken. Aber niemand vermag die Einbussen zu messen und festzustellen, welche soziale Schicht oder welche Branche welche Kosten genau trägt.

Anreize fiir Lobbying

Diese Undurchsichtigkeit verleitet jede Interessengruppe dazu, auf politischem Weg Vorteile erlangen zu wollen. Ist der politische Prozess einmal “sozial” und damit anfällig auf Lobbying, wächst die Schar weiterer Bittsteller. Auf diese Weise wird eine marktwirtschaftliche Ordnung, die zunächst einen bescheidenen Kompromiss anstrebte, immer weiter in die “soziale” Richtung getrieben und kann – selbst wenn man es wollte – nicht mehr gebremst werden. Soziale Sicherheit und andere Umverteilungsströme sind nur die Spitze des Eisberges, die augenfälligsten Kosten des “sozialen Marktes”. Diese Daten sind aber über die Länder hinweg relativ gut vergleichbar. Und hier zeigt der prozentuale Anteil des Sozialprodukts, der in verschiedenen Ländern und Stadien des “sozialen Fortschritts” umverteilt wird, einen Aufwärtstrend. Hält diese Tendenz an, wird der Anteil der umverteilten Mittel ab einem bestimmten Punkt nicht mehr tragbar, wenn wir auch nicht wissen, wann dieser erreicht sein wird. Zu gegebener Zeit wird indessen die marktorientierte Version des Sozialismus ebenso zur Selbstzerstörung führen wie der unverfälschte Sozialismus marxistischer Prägung – wenngleich aus andern Gründen. Irgendeine historische Wende wird zu einem bestimmten Punkt den Trend wahrscheinlich brechen. Dann wird sich die Öffentlichkeit von ihrem Flirt mit dem Marktsozialismus mit dem Argument abwenden, dass er von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei – mit demselben Falkenauge später Einsicht, mit dem sie das Scheitern der marxistischen Version des Sozialismus endlich diagnostiziert hat.