Liberal zu sein bedeutet, Freiheit über Gleichheit zu stellen. Dass Gleichheit wesensmässig gut und Ungleichheit wesensmässig schlecht sei, erweist sich dann als blosse Behauptung. Erstaunlicherweise nehmen jedoch die Literatur über soziale Gerechtigkeit und die politische Diskussion diese dürftige kategorische Aussage unbesehen auf und kolportieren sie freudig. Die Situation erinnert an das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Jedermann lobt sie, hauptsächlich weil jeder andere es auch tut, und keinem kommt es in den Sinn zu fragen, was denn an ihnen so Aussergewöhnliches dran sei. Nur wenige sind mutig und redlich genug, um laut zu sagen, der Kaiser sei nackt.
Die Devise der Gerechtigkeit ist «Jedem das Seine», diejenige der sozialen Gerechtigkeit «Jedem dasselbe». «Jedem das Seine» ist offensichtlich das Resultat einer Reihe von Überlegungen, was jedem gehöre oder ihm zustehe. Es setzt die grundsätzliche oder auch detaillierte Kenntnis dessen voraus, was jedem Menschen zu Eigen sei – der Freiheiten, von denen er ohne Beeinträchtigung Gebrauch machen kann und der Konventionen, die die Verpflichtungen jedes einzelnen gegenüber den anderen regeln. Ohne diese Elemente wäre «Jedem das Seine» eine blosse Leerformel. «Jedem dasselbe» verlangt nicht nach solch feinen Unterscheidungen; auch ohne sie ist die Formel nicht leer; denn sie verlangt klar und simpel, dass das zu Verteilende gleichmässig zuzuteilen sei. Ob sich dies ohne Verletzung anderer Gleichheiten bewerkstelligen lasse oder nicht, ist kein Thema.
Die kategorische Aussage – dass Gleichheit wesensmässig gut und Ungleichheit wesensmässig schlecht sei – wird vor uns hingestellt, als ob ihre Richtigkeit evident sei. Angesichts der fehlenden Fundierung ist dieses apodiktische Vorgehen zweifellos ein cleverer Schachzug, wie sich an der Popularität ablesen lässt, die der Begriff der sozialen Gerechtigkeit geniesst. Soll es jedoch zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem unentwegt vorgebrachten Anspruch auf moralische Überlegenheit kommen, muss dieser dartun, warum Ungleichheit schlecht und Gleichheit gut sei.
Zu behaupten, etwas sei unverdient, ausser es gebe eine gute Rechtfertigung dafür, ist nicht weniger willkürlich, als zu behaupten, etwas sei verdient, ausser es gebe einen guten Grund dagegen. Allein schon die Tatsache des Unterscheidens, das eine sei willkürlich und das andere nicht, ist willkürlich. Der moralische Gipfelpunkt ist nirgendwo in Sicht, von dem herab ohne Umschweife für die Gleichheit eine Vorzugsbehandlung zulasten der Ungleichheit dekretiert werden könnte. Entweder bedürfen beide einer Begründung, oder keine der beiden.
Eine Vielzahl der die soziale Gerechtigkeit umgebenden doktrinellen Ungereimtheiten sind einem mangelhaften Verständnis des Gleichheitskonzepts zuzuschreiben. Komplexe Gleichheiten, die Verteilungen erklären, werden ignoriert, beiseite gewischt oder zu Ungleichheiten erklärt. Da sich die soziale Gerechtigkeit auf keine allgemein akzeptierte, klare Norm stützen kann, ist sie dazu verdammt, irgendwelche konstruierte Ungerechtigkeiten ins Feld zu führen, um dann für sie Abhilfe durch Umverteilung zu verlangen.
Während sich die soziale Gerechtigkeit auf der hohen Warte der moralischen Überlegenheit einrichtet, wird die gegenüberliegende Höhe von dem üblichen Rechtssystem mit der Freiheit des Privateigentums und der Vertragsfreiheit eingenommen. Da Besitztitel sich nicht leicht fälschen lassen, besteht die Vermutung zugunsten des eigentumsmässigen Status quo. Die Argumentation ist dieselbe wie für die Freiheitsvermutung.
Statt auf einer Doktrin, beruht der Umverteilungskompromiss der Sozialdemokratie auf der Unterstellung, dass ohne ihn die gesamte Sozialordnung abgelehnt würde. Dabei geschieht in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten die Umverteilung nicht so sehr vertikal, von Reich zu Arm, als vielmehr horizontal zwischen Gruppen, von denen jede an ihrer besonderen Art von Wohlfahrtsvorteilen interessiert ist. Diese Hin- und Herschieberei ist ungeordnet und – im Sinne von Wohlfahrtsverlusten – verschwenderisch.
aus dem Englischen von Reinhart R. Fischer
ANTHONY DE JASAY, geboren 1925, ist Sozialphilosoph und Privatgelehrter.