Columns

Anthony de Jasay: Die französische Tragikomödie, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. April 2007

Warum die «Grande Nation» so wenig aus sich zu machen weiss.

Wer sich mit den Programmen der französischen Präsidentschaftskandidaten auseinandersetzt, kann laut dem Autor des folgenden Beitrags nur zu einem Schluss kommen: Frankreichs Elite fehlt das Verständnis für einfachste ökonomische Zusammenhänge. (Red.)

Die Spitze der Intellektuellen-Pyramide Frankreichs stellt in der geistigen Landschaft nicht gerade den Montblanc dar. Die Bedeutung dieser selbsternannten Elite stimmt jedenfalls nicht mit ihrer Selbsteinschätzung überein. Der «normale» Franzose – selbstverständlich auch die Französin – gehört dagegen sicherlich zu den Gescheitesten unter den Europäern. Er ist im individuellen Umgang schlagfertig, nüchtern in seinem Urteil, kann sich gut ausdrücken und ist fähig und bereit, sein kritisches Urteil zu gebrauchen. Trotzdem funktioniert die kollektive Intelligenz von Frankreichs Politik auf einem erschreckend tiefen Niveau.

Inkohärente politische Programme

Einige Symptome dieser seltsamen Diskrepanz kommen in der laufenden Präsidentschaftswahl deutlich zum Ausdruck. Trotz ihren Unterschieden haben die führenden Kandidaten ein gemeinsames Thema, nämlich dass die Verschuldung des Landes von 65% des Bruttoinlandprodukts (BIP) unhaltbar sei und verringert werden müsse. Obschon der Prozentsatz über der in Maastricht vereinbarten Obergrenze von 60% liegt, ist er keine Katastrophe. Das Problem ist vielmehr die drastische Zunahme des Anteils. Für Familien mit Kindern sollte dies Anlass zur Sorge sein.

Trotz ihren natürlichen Vorteilen scheint Frankreichs Wirtschaft vom Pfad des gemächlichen Wachstums nicht wegzukommen. Der letztjährige Zuwachs von 2% fällt im Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt von 2,9% und dem OECD-Mittel von über 4% schwach aus. Es würde viel fiskalische Härte brauchen, um zu verhindern, dass die Verschuldungsquote weiter steigt. Doch während sich alle einig sind, dass der Trend gebrochen werden muss, schlägt jeder Kandidat neue Ausgaben vor, die das Defizit um weitere 1,5 bis 3 Prozentpunkte des BIP nach oben treiben würden. Die einen behaupten, durch den Abbau von Verschwendung dennoch einen Defizitabbau erreichen zu können, und die Spitzenkandidatin der Linken plant irgendwelche «europäischen Lösungen» für die Verteidigungsausgaben. Das scheint die Wählerschaft aber nicht zu stören. Laut Umfragen reagiert das Volk sowohl auf die Versprechen fiskalischer Aufrichtigkeit als auch auf die Fülle neuer Ausgabenvorschläge positiv.

Rezepte bar jeder Logik

Von den zwei Favoriten schwört die Kandidatin der Linken, sie werde die Steuern nicht über die gegenwärtige Quote von 44% heben. Steuererleichterungen für die Armen will sie mit einer Besteuerung des «Kapitals» (das sich an der Urne nicht direkt wehren kann) kompensieren. Der Kandidat der Rechten will sogar die Steuerquote über einen Zeitraum von zwei Amtsperioden (10 Jahre) von 44% auf 40% reduzieren. Beide behaupten, dass sich ihre Programme durch ein höheres Wirtschaftswachstum bezahlen. Die Rechte erwartet, dass dies dadurch passiert, dass jedermann härter arbeitet – was tatsächlich sein könnte, wenn die Wirtschaft vorher reformiert würde und die Soziallasten, die sie niederdrücken, zumindest teilweise entfernt würden. So etwas vorzuschlagen wäre jedoch wahlkampftechnischer Selbstmord. Stattdessen lautet die Devise: neue Ausgaben. Die Linke erklärt, indem sie den Jungen Jobs garantiere, den Minimallohn auf 1500 Euro hebe und die niedrigsten Renten erhöhe, werde der Konsum stimuliert, was das Wachstum fördere. Wissen wir nicht alle, dass Wachstum am besten dadurch gefördert wird, dass man der Wirtschaft immer mehr Kosten aufbürdet?

Zurück zum Naturallohn

Solche Absurditäten sind natürlich nicht nur spezifisch französischer Natur. Sie sind Teil jedes politischen Systems, das nach dem Prinzip «Ein Mann, eine Stimme» funktioniert und in dem die Mehrheit fast alles bestimmen kann. Wir nennen dieses System Demokratie und halten es für eine gute Sache. Seine Fähigkeit, Schaden anzurichten, wird durch ein Gleichgewicht verschiedener rivalisierender Gruppen eingedämmt, von Kapital und Arbeit, von reichen Wahlkampfspendern und armen Nutzniessern des Sozialsystems, die sich gegenseitig die Waage halten. In Frankreich ist die Realität allerdings tragischer und zugleich komischer als in einer gewöhnlichen Demokratie.

Während vierzehn Jahren unter François Mitterrand und zwölf unter Jacques Chirac waren sämtliche Regierungen linkslastig. Sie bauten, komplettierten und verschönerten das stolze Sozialmodell Frankreichs, um das es andere Länder angeblich beneiden. Es ruht im Wesentlichen auf zwei Säulen. Eine ist ein fast lächerlich ausgefeiltes Arbeitsrecht, ein Konvolut von mehr als 2600 Seiten, das beinahe auf ein «Recht auf Arbeit» hinausläuft. Indem es Entlassungen praktisch verunmöglicht, hat es dazu geführt, dass sich die Unternehmen scheuen, Leute einzustellen.

Die andere, wohl noch problematischere Säule ist eine umfassende Versicherung gegen Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Sie wird so finanziert, dass man den Arbeitern nur ungefähr 55% ihres Lohnes auszahlt und (kraft des Gesetzes und mit der Komplizenschaft der Gewerkschaften) die restlichen 45% zurückbehält. Das nennt sich dann «Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag» zur Sozialversicherung. Das Ganze stellt eine Rückkehr zum alten und diskreditierten paternalistischen System des Naturallohns dar, nicht mit der Absicht, jemanden zu betrügen, sondern um «soziale» Werte aufzuoktroyieren. Dafür zwingt man die Angestellten, eine Versicherung statt Bargeld zu akzeptieren. Die Folge davon ist, dass die Arbeit, die ein Arbeiter für 80 oder 90 verrichtet, den Arbeitgeber 100 kostet – mit naheliegenden Auswirkungen auf die Arbeitsnachfrage. Die Arbeitslosigkeit in Frankreich lag 2006 immer noch nahe bei 10%. Das ist die tragische Seite der französischen Tragikomödie.

Ausuferndes Sozialsystem

Die lustig-absurde Seite kann man darin sehen, wie weit die Rechte der Arbeitslosen ausgebaut wurden. Beispielsweise sind echte oder selbsternannte Schauspieler und anderes Showbusiness- Personal berechtigt, Arbeitslosengeld zu beziehen, wenn sie nachweisen können, dass sie einige Tage im Jahr einer bezahlten Arbeit nachgehen – ein Nachweis, der sich für etwas Liebe oder Geld einfach beschaffen lässt. Es dürfte niemanden überraschen, dass in den 13 Jahren, in denen es die Regelung gibt, die Zahl jener, die davon profitieren, von 41 000 auf 104 000 zunahm und dass die Kosten auf das Fünffache stiegen. Arbeitslosenentschädigung setzt voraus, dass jemand vorher eine Arbeit hatte und diese verloren hat. Nun musste man sich jedoch auch um jene kümmern, die gar nie einen Job hatten, und so wurde das «soziale Modell» entsprechend ausgeweitet: Arbeitslose über 25 erhielten Anrecht auf ein «Einstiegsgeld». Zunächst waren es nur 400 000, doch inzwischen (2006) hat die Zahl solcher Berechtigter bereits 1,1 Mio. erreicht, mit Kosten in der Höhe von 5,9 Mrd. Euro. Das ist zwar keine enorme Summe, aber ein gutes Beispiel dafür, wie eine gute Idee etwas zu gut ankommen kann.

Andere Länder, deren «Sozialmodelle» ebenfalls vor allem über obligatorische Gehaltsabzüge finanziert werden, etwa Schweden und Deutschland, haben realisiert, wohin all dies führt, und haben politisch schwierige Reformen durchgeboxt – mit gutem Erfolg. In Frankreich wurde dies nicht getan, teilweise, weil Chirac das «soziale Modell» für sakrosankt und den angelsächsischen Liberalismus für ebenso schlecht wie den Kommunismus hält, teilweise, weil er Angst davor hatte, sich mit den Gewerkschaften anzulegen. Ein tieferer Grund ist jedoch das völlig unterentwickelte Verständnis der französischen Öffentlichkeit für wirtschaftliche Zusammenhänge.

Wundersame Geldvermehrung

Frankreich scheint vom Glauben beseelt, der Staat könne Paul bezahlen, ohne Peter Geld wegnehmen zu müssen: Er gebe es einfach Paul – und Peter werde deswegen nicht schlechtergestellt. Man glaubt, das Geld befinde sich in einer Art Reservoir und der Staat könne es «deblockieren», wie die Franzosen sagen. Wenn man einer Gruppe einen teuren Gefallen erweist, sich gegenüber den Bedürftigen grosszügig zeigt oder 35 000 junge Leute anstellt, damit sie Schulkinder beaufsichtigen und diese von gewalttätigen Unruhen abhalten, gewinnen nach dieser Logik einige – und niemand verliert. Das nötige Geld wurde ja einfach «deblockiert» – und dafür sind öffentliche Gelder doch da. Es ist in dieser Sichtweise immer genug Geld im Reservoir, das nur darauf wartet, freigemacht zu werden.

Diese erstaunliche Unfähigkeit, die Realität öffentlicher Finanzen, ja die Realität insgesamt zu verstehen, erklärt, warum in Frankreich der Versuch einer Interessengruppe, sich besondere Rechte oder Vorteile zu sichern, kaum einmal von anderen Interessengruppen konterkariert wird, die die Kosten einer solchen Politik zu tragen haben. Laut Umfragen werden endlose Eisenbahnerstreiks von einer Mehrheit der Pendler akzeptiert, obwohl sie unter den Unannehmlichkeiten leiden. Wenn die Kioskbesitzer Entschädigungen für rückläufige Zigarettenverkäufe verlangen und diese auch bekommen, denkt jeder, das sei doch das mindeste, was der Staat tun könne. Und wenn dank Importen Lebensmittel günstiger werden, wird es als durchaus richtig angesehen, dass der Staat diese zugunsten der einheimischen Bauern wieder verteuert. So wird aus Frankreich, das so reich sein könnte, ein armes Land, das «versucht, mit einem Zweitklassticket erste Klasse zu fahren» – und sich wundert, dass dies nicht funktioniert.

* Der Autor zählt zu den führenden Sozialphilosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er stammt aus Ungarn und lebt heute als Privatgelehrter in Frankreich.