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Anthony de Jasay: Brot und Spiele, in: Neue Zürcher Zeitung, 10. August 2004

Der Autor des folgenden Artikels ist der Ansicht, dass sich dauerhaft hohe Arbeitslosenquoten nicht rechtfertigen lassen. Alle sogenannten sozialen Massnahmen müsse ein Land schliesslich mit weniger Arbeitsplätzen bezahlen. Immerhin seien erste Ansätze für ein Umdenken etwa in Deutschland sichtbar. (Red.)

lm alten Rom versorgte der Kaiser etva ab dem dritten Jahrhundert rund 200,000 Menschen, also 20% bis 25% der Bevölkerung, mit Brot und Speiseöl. Die gratis verteilten Nahrunwsmittel zog er auf die eine oder andere Weise bei den Herstellern ein. Dieser antike Wohlfahrtsstaat fing allerdings bald an zu kriseln. Die Probleme mündeten in einem langsamen und schmutzigen Todeskampf des römischen Imperiums. Im Nachhinein fragt sich eigentlich nur, warum der Niedergang so lange dauerte. So wichtig wie das Brot und das Öl waren für die Zufriedenheit der Bevölkerung die Gladiatorenspiele, die der Kaiser ebenfalls umsonst anbot. Im heutigen Wohlfahrtsstaat könnten professionelle Fussballspieler und andere Sportler als moderne Gladiatoren angesehen werden. Die Fernsehanstalten wären in dieser Betrachtungsweise die Zirkusbetreiber, die mit Hilfe von Werbegeldern die Spiele anbieten. Wie im alten Rom sind es auch in der modernen Gesellschaft die Produzenten, die Brot und Spiele zur Verfügung stellen. Sie tun es sowohl für sich selber wie für alle anderen, die sich nicht aktiv am Produktionsprozess beteiligen. Damals wie heute gibt es zahlreiche Gründe, selber nicht wirtschaftlich aktiv zu sein bzw. weniger zu produzieren, als mit vernünftigem Aufwand möglich wäre. Faulheit ist dafür wohl nicht die Hauptursache; die Gründe sind viel komplexer. Einige sind nicht zu entschuldigen, andere hingegen können durchaus akzeptiert werden.

Arbeitslosigkeit – wer ist schuld?

Hohe Arbeitslosigkeit – über der Quote von 3% bis 5%, die normale Stellenwechsel verursachen – kann man nicht rechtfertigen. Sie ist vielleicht in konjunkturell schwierigen Zeiten zu entschuldigen, aber dauerhaft sicherlich nicht. Im Moment weist Südkorea mit 3,4°% die geringste Arbeitslosenquote auf, in den Niederlanden betragt sie 4,5%, in Grossbritannien 5%, in Japan 5,3% und in den USA etwas weniger als 6%. Am anderen Ende der Skala liegt Polen (aus speziellen, vermutlich transitorischen Gründe) mit fast 20%, Spanien weist notorisch zu hoch kalkulierte 11,3% aus, Frankreich steckt bei knapp 10% fest, Deutschland bei 8,7% und Italien bei 8,4%.

Ein Teil der Arbeitslosigkeit muss als freiwillig angesehen werden, weil einige Leute lieber von der Arbeitslosenunterstützung leben, als eine zu niedrige Arbeit oder eine zu schlecht bezahlte Stelle anzunehmen. So fehlen der französischen Bauindustrie rund 300,000 Arbeiter, wahrend Deutschland gerade die Immigrationsgesetze gelockert hat, um Leute für Arbeitsstellen hereinzulassen, für die offenbar kein Deutscher zu haben ist. Das Mittel gegen freiwillige Arbeitslosigkeit ist bekannt: Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeldern muss verkürzt und der Zusammenhang zwischen dem letzten Salär und der Höhe des Arbeitslosengeldes schrittweise beschnitten werden. Die Niederlande, Grossbritannien und Dänemark haben solche Massnahmen erfolgreich umgesetzt, Deutschland bereitet – wenn auch nur vorsichtig – ähnliche Schritte vor. Andernorts werden die Massnahmen immer noch als unsozial abgelehnt. Hier kann man zu Recht sagen, lass die freiwillige Arbeitslosigkeit nur dank dem politischen System Bestand hat.

Dasselbe trifft grösstenteils auf unfreiwillige Arbeitslosigkeit zu. Man mass nur an die vielen Arbeitsgesetze and Regulierungen zum “Schutz” der Rechte von Arbeitnehmern denken. Sie machen Entlassungen so schwierig, dass das Einstellen von Personal zu einem risikoreichen Vorhaben geworden ist, da man die angestellten Arbeiter vielleicht bis zu ihrer Pensionierung bezahlen muss, egal ob man Arbeit für sie hat oder nicht. Tatsächlich werden praktisch alle “sozialen” Massnahmen letztlich mit weniger Arbeitsplätzen bezahlt – eine Wahrheit, die die Öffentlichkeit in Europa bis vor kurzem mit Vehemenz von sich gewiesen hat.

Freie Wahl zwischen Arbeit and Freizeit

Der andere wichtige Grund dafür, keine Güter zu produzieren, ist die von den Individuen bevorzugte Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Dieser Entscheid steht nicht in Widerspruch zu rationalem Verhalten, so dass sich ein Streit über die Anzahl Arbeitsstunden nicht lohnt, solange diese und das Gehalt frei aushandelbar sind. Es mag ein wenig altmodisch klingen, aber die Ökonomie lehrt uns, dass das Individuum versucht, den Grenznutzen des Einkommens gegen den marginalen Schaden der Arbeit abzuwägen. Ersterer fällt, je mehr jemand verdient, Letzterer steigt, je mehr jemand arbeitet. Die bevorzugte Zeitaufteilung liegt da, wo sich die beiden treffen. Wie andere Theoreme ist dies ebenfalls eine Binsenwahrheit, die aber nicht nutzlos ist, da sie bei der Strukturierung der Argumentation hilft.

Der durchschnittliche Erwerbstätige in Amerika arbeitet etwa 1950 Stunden im Jahr. Dies entspricht 49 Wochen zu 40 Arbeitsstunden, drei Wochen bleiben für bezahlten Urlaub und andere Absenzen. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in Grossbritannien ist etwa dieselbe. Im Gegensatz dazu umfasst das durchschnittliche Arbeitsjahr in Deutschland und Frankreich etwa 43 35-Stunden-Wochen. Es ist schwierig zu glauben, dass dar Gleichgewicht von Einkommen und Arbeit zwischen Amerikanern und Engländern einerseits und Deutschen und Franzosen anderseits so unterschiedlich ist. Allerdings sagt die Statistik nichts über die Arbeitsintensität aus. Das Einkommen pro Kopf in Deutschland und Frankreich ist tatsächlich ein wenig höher als die geringe Anzahl Arbeitsstunden vermuten lässt.

Ausserdem ist die Arbeitszeit oftmals nicht frei aushandelbar. Seit vier Jahren hat Frankreich ein Gesetz, das die wöchentliche Arbeitszeit auf maximal 35 Stunden fixiert – eine paternalistische Impertinenz, die erst noch als grossartiger “sozialer Fortschritt” verkauft wird. Ein Teil der französischen Mitte-Rechts-Regierung will zwar das Gesetz verwässern oder abschaffen, aber Präsident Chirac hat sein Veto dagegen eingelegt. In Deutschland gibt es keine gesetzlich fixierte Höchstarbeitszeit, aber die Gewerkschaften haben ihre Mitglieder so lange dazu bewogen. weniger Arbeitsstunden zu fordern, bis es als politisch korrekt angesehen wurde, diesen “sozialen Fortschritt” gegenüber den höheren Gehältern zu bevorzugen (beides zu verlangen, ist immer noch das Optimum).

Schliesslich ist es mit dem schrittweisen Verschwinden von schwerer körperlicher Arbeit und monotoner Fliessbandarbeit nicht mehr langer offensichtlich, dass Arbeit unbedingt als Schaden, empfunden wird. Vielmehr gibt es Arbeitnehmer, die tatsächlich Freude an dem haben, was sie gegen Bezahlung machen. Viele geniessen vielleicht nicht die Arbeit an sich, so aber doch die Annehmlichkeiten und die Atmosphäre am Arbeitsplatz – die oft im Gegensatz zur Einsamkeit und Langweile an den Abenden oder Wochenenden stehen (Der Fernsehapparat bietet hier nur einen mageren Ersatz für die Zirkusspiele der Antike). Wenn die Arbeitsgesetze, die institutionellen Arrangements und die Absichten der Gewerkschaften dies ermöglichten, würden sich vielleicht viele Angestellte für mehr Arbeitsstunden und ein höheres Einkommen entscheiden. Sie würden auch eher längere Arbeitszeiten wählen, als nur beim Verschwinden von Arbeitsplätzen zuzuschauen.

Das Blatt hat sich gewendet

Genau diese Wahl mussten kürzlich 2000 Angestellte von zwei Siemens-Fabriken im Nordwesten Deutschlands treffen. Die Firma konnte die Produktion von Mobiltelefonen nicht länger mit der 35-Stunden-Woche vereinigen. Sie schlug den Arbeitern vor, für den gleichen Lohn 40 Stunden zu arbeiten, sonst müsste man die ganze Produktion nach Ungarn verlegen, wo willige und gute Arbeiter zu einen Bruchteil der Kosten vorhanden sind. Die 2000 Deutschen sprachen sich klar für die 40-Stunden-Woche aus. Daimler-Benz und Bosch sind dem Beispiel von Siemens bereits gefolgt; über 100 ähnliche Bewegungen sind offenbar in Vorbereitung. Das politische Klima in Deutschland scheint sich zu ändern. Vor einigen Monaten schalt Bundeskanzler Schröder die Unternehmen noch für die Verlegung ihrer Betriebe nach Osteuropa. Anfang Juli – nach einer geradezu unglaublichen Kehrtwende – warnte der Vorsitzende der regierenden Sozialdemokraten die Gewerkschaften bereits vor zu viel Egoismus.

Das Bedeutsame dabei ist nicht, dass einige Arbeiter sich den Gewerkschaften widersetzen oder dass die Politiker das Risiko einer NichtWiederwahl eingehen, weil sie ökonomischen Verstand zeigen. Vielmehr fällt auf, dass Führungskräfte – die sich lange Jahre ängstlich vor den Steuerbehörden und den Gewerkschaften duckten – wieder den Mut haben, zu erzählen, wie es wirklich ist. Das Blatt scheint sich gewendet zu haben.